1. Genau so hätte ich mir meinen Geschichtsunterricht gewünscht! Ich bin regelrecht eingetaucht in die Epochen der Romantik und des Biedermeiers - und natürlich auch in das Leben der Annette von Droste-Hülshoff, der grössten deutschsprachigen Autorin des 19. Jahrhunderts und der Verfasserin der «Judenbuche». Interessant finde ich dabei auch Karen Duves Schwerpunkt: Der Fokus liegt nicht auf dem literarischen Werk Droste-Hülshoffs. Vielmehr geht es darum, wie es sich anfühlt, eine Dichterin zu sein in einer Gesellschaft, in der Dichterinnen eigentlich gar nicht vorgesehen sind.
2. Der Roman ist amüsant und bissig geschrieben. Gerade auch die Passagen über die gesellschaftliche Rolle der Frau. Ich habe über abstruse Theorien des 19. Jahrhunderts schmunzeln können, etwa über die Idee, dass menstruierende junge Frauen zu Brandstiftungen neigen würden. Grotesk auch die Erklärungen des Arztes Dr. Ficker an Fräulein Nette: «Aus dem Sitz des Gefühls der Frau im Rückenmark (!) ergibt sich ihr reiches und feines Empfindungsvermögen.» Und weil das Gefühl im Rückenmark verortet ist, können gemäss Dr. Ficker Frauen auch nicht abstrakt denken. All diese Anekdoten hat Karen Duve sorgfältig recherchiert und erzählt sie mit einer wohltuenden ironischen Distanz. Die Romanlektüre lohnt sich nur schon, um sich zu vergegenwärtigen, wie rein männlich die Universitäten, Regierungssäle und Amtsstuben zu jener Zeit waren.
3. Man/frau kann nicht nur in die Geschichte eintauchen, sondern auch vielfältige Bezüge herstellen zu unserer Zeit oder zum Nationalsozialismus. Es war mir beispielsweise nicht bewusst, welches Ausmass der Judenhass nach den napoleonischen Kriegen annahm. In einem der kurzen historischen Exkursen geht Duve auf die Hep-Hep-Krawalle in den Städten des Deutschen Bundes ein, bei denen marodierende Studenten jüdische Geschäfte verwüsteten. Dabei veranschaulicht Duve genau den Moment erzählerisch, in dem populistische Reden in Gewalt umkippen.
Später einmal tritt auch Heinrich Heine auf (neben vielen, vielen andern wie den Brüdern Grimm, Kotzebue, Knigge...) und ärgert sich über die Studentenburschenschaften: «"Tja", sagte Heine, "sie greinen von ihrer Liebe zu Deutschland, aber eigentlich geht es ihnen bloss darum, alles Fremde hassen zu dürfen. Und wenn sie mit der christlich-abendländischen Kultur kommen, dann pochen sie damit bloss auf ihr Recht, jeden Quatsch glauben zu dürfen. Ihre Dummheiten sind des blödsten Mittelalters würdig."» Wie recht Heine mit seiner Aussage auch heute noch hätte.
4. Wer Liebesromane mag, kommt auf seine Kosten. Es werden Locken verschenkt, Hände geküsst oder Sträusschen für den Herzensfreund geflochten. Aber da ist noch viel mehr als Herzschmerz, da ist wieder die Geschichtslektion, wie ich sie mir erträumt hätte: Das Freifräulein von Droste-Hülshoff liebt den bürgerlichen Heinrich Straube, einen Vertreter der Göttinger Poetengilde. Die bürgerliche und die adlige Welt reiben sich aneinander. Die bürgerliche Welt ist aufstrebend, aber rechtlos, die andere im Niedergang, aber noch immer stolz und mächtig. Das alles zeigt sich in diesem Liebesverhältnis ganz grandios.
5. Und nicht zuletzt: Der Roman ist auch ein Roadmovie! Wie Duve die Kutschfahrten durch den westfälischen Morast beschreibt, bei Dauerregen, ist ein Lesegenuss. Annette verträgt diese holprigen Fahrten schlecht. Und trotzdem würde sie so gerne reisen, am liebsten nach Afrika oder zumindest einmal nach Italien! »Frei sein, einfach losziehen!« Die Sehnsuchtsziele und die Reiserealität klaffen weit auseinander.
Mein Fazit: Der Roman ist eine Bereicherung und bleibt einem noch lange in bester Erinnerung. Gleich das Hardcover bestellen oder warten, bis im Juni 2020 das Taschenbuch erscheint. Viel Spass beim Lesen.
(Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer. Roman. Galiani Berlin, 2018, 566 Seiten. Erscheint im Juni 2020 als Taschenbuch.)