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«Unrast» in Corona-Zeiten

Wie ist es, Olga Tokarczuks «Unrast» in Corona-Zeiten zu lesen? Die Welt in «Unrast» ist in Bewegung, mit Flughäfen als Knotenpunkten. Die Ich-Erzählerin schreibt in Wartesälen, Hotels und Zügen über das Fehlerhafte, das Andere, dem sie auf ihren Reisen auf der Spur ist. Man liest also diesen Roman und ist selbst vorwiegend zu Hause, zieht seine Kreise vom Garten zum Supermarkt und zurück. Passt das?

 

Ich habe «Unrast» von Olga Tokarczuk im Lockdown gelesen, im Liegestuhl in meinem Garten. Im Buch also Reisebilder, Geschichten vom Unterwegssein, vom Fluiden und von Linien, während ich gerade sehr daheim war, sehr zentriert. Das Lebensgefühl der Ich-Erzählerin, deren Energie sich aus der Bewegung schöpft, "aus dem Ruckeln von Autobussen, dem Dröhnen von Flugzeugen, dem Schaukeln von Fähren und Zügen" (S. 14) war für mich im Corona-Stillstand weit weg.

 

Aber die Geschichten und Anekdoten, die Tokarczuk erzählt, sie hallen nach. Etwa das Bild der pflichtbewussten Mutter in der titelgebenden Geschichte «Unrast», die einige Tage ziellos mit der Moskauer U-Bahn hin- und herfährt, getrieben und völlig haltlos. Oder die beschriebenen Reisen in den Körper: Wie Verheyen, der Anatom, mithilfe seines amputierten Fusses, den er sein Leben lang aufbewahrt, die Achilllessehne entdeckt. Sein Körperteil ist von ihm getrennt, schmerzt ihn aber immerzu und bestimmt sein Dasein.  

 

Die Ich-Erzählerin in «Unrast» sieht sich dabei als Geburtshelferin, als Gärtnerin, die sät und Unkraut jätet. Es ist an der Leserin oder am Leser selbst, sich aus den Geschichten und Gedanken einen Garten zu schaffen. Und etwas ist klar: Es ist nicht wesentlich, ob man örtlich stillsteht oder mobil ist. Entscheidend ist, dass man gedanklich einen Kosmos schaffen kann, eben eine Art Garten mit wilden, teils abnormen Gewächsen und vielen Verbindungswegen . Und Tokarczuk lädt dazu ein.

 

(Olga Tokarczuk: Unrast. Kampa, Zürich 2009. 457 S)

 

"Schon mein ganzes Leben lang haben mich die Netze von Verbindungen und gegenseitigen Einflüssen fasziniert, derer wir uns meist gar nicht bewusst sind, die wir rein zufällig entdecken und für erstaunliche Fügungen halten, für seltsame Übereinstimmungen - all diese Brücken, Schrauben, Bolzen und Verbindungsstücke, die ich in meinem Roman «Unrast» vollziehe."

(Olga Tokarczuk: Der liebevolle Erzähler. Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur. Kampa, Zürich, 2019. S. 44)